Signatur

    

Anmerkungen

Der Text dieses Tuschestücks ist ein schönes Beispiel für die Vieldeutigkeit chinesischer Texte, bei deren Entzifferung sich selbst Chinesen noch die Haare raufen. Die früher übliche und noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in China verwendete Schriftsprache war eine Gelehrtensprache. Sie war zum einen eine Mischung aus Zitaten der gedruckten Klassiker und Anspielungen auf Texte der Dichtkunst, zum anderen eine Komprimierung komplexer Inhalte in nur ein einziges Schriftzeichen. Ihr Verständnis hing ganz von der Belesenheit und dem Gespür des Einzelnen ab, den richtigen Sinn erfassen zu können.

Text

       

Die sieben Schriftzeichen des Textes können je nach Zusammenhang folgende unterschiedliche Bedeutungen haben:

          xing        :       gedeihen, aufblühen / beginnen, anfangen / fördern, unterstützen / aufstehen
          chá         :        Tee (eines der wenigen eindeutigen Schriftzeichen)
          xi             :        warum, wie, wo, was
          yi            :        Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit / Verbundenheit / Freundschaft
          jiao         :        vergleichen, messen / verhältnismäßig, relativ / klar, sichtbar / um etwas streiten
          xin          :        neu, frisch / neulich, vor kurzem / seit kurzem
         chén       :        ausstellen / darlegen / alt, abgestanden

Der Phantasie des Lesers bieten sich folgende Interpretationsmöglichkeiten:

       -           Den Tag mit Tee beginnen, um klar und umsichtig urteilen zu können.
       -           Tee fördert die Freundschaft und schärft das Urteilsvermögen.

       -           Mittels Tee kann sich wahre Freundschaft zeigen und Aufrichtiges von Unaufrichtigem
                   geschieden werden.
       -           Tee verhilft zu Rechtschaffenheit und Unterscheidungsvermögen.

       -           Tee ermöglicht dem Menschen ein klares Urteilsvermögen.
       -           Tee ist ebenso unverzichtbar, wie Gerechtigkeit durch Abwägen des Für und Wider
                   herbeizuführen.
       -           Guter Tee fördert die rechte Beurteilung von Richtig und Falsch.
       -           Tee zuzubereiten fördert, daß man das Richtige klar und schnell beurteilen kann.
       -           Tee trinken fördert den Ausgleich zwischen den Gegensätzen.

Dem Alt-Sinologen dürfte schon aus der Reihenfolge der einzelnen Schriftzeichen und ihrer Stellung im Satz die richtige Bedeutung klar werden. Als unbedarfter Laie tendiere ich zur ersten Variante, die meinem Gefühl zutiefst entspricht: Beginnt doch auch für mich ein guter Tag stets in Ruhe und einem Kännchen Tee zur Rechten. Die letzte Variante drückt dann mein Empfinden aus, wofür Teetrinken in meinem Leben letztendlich steht: Teetrinken als Medium der Kontemplation. So zählt diese Tusche – ungeachtet ihres fehlenden Alters – allein schon wegen des Textes und der schön gearbeiteten Landschaftsszene zu meinen Lieblingsstücken.

Der auf der Vorderseite abgebildete Phönix ist Symbol der Kaiserin. Der Phönix wird außerdem gerne bei Hochzeiten zusammen mit dem Drachen als glücksverheißendes Paar für die Brautleute verwendet und schmückt dann Stoffe, Geschirr und Eßstäbchen. Es könnte deshalb ursprünglich zwei Tuschestücke gegeben haben, mit der Abbildung eines Drachen auf dem Pendant.

Das ganze Erscheinungsbild des Tuschestücks zeugt auf den ersten Blick von neuester Fabrikation:

          -     Die glatte, nahezu poliert wirkende Oberfläche;
          -     fehlende Schwundrisse ("Sprünge");
          -     die mit Ocker anstelle von Gold unterlegten Schriftzeichen;
          -     die in leuchtendem Rot ausgeführte Inschrift yu mo (Kaiserliche Tusche) auf der
                Schmalseite oben;
          -
    das leichte Gewicht dieses relativ großen Tuschestücks, gegenüber authentisch alten, die aus
                schwerem Ruß und Leim hergestellt wurden.

Ich hielt es anfangs sogar für möglich, hiermit das erste Plastikreplik in meiner Sammlung zu haben – denn es fällt schwer, zu entscheiden, ob das Gewinnstreben der Souvenirartikelbranche noch vom Respekt der Chinesen vor ihren alten Kulturgütern in Zaum gehalten wird – doch ein Test bewies eindeutig, daß es sich wirklich um Tusche handelt.

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